Knoten entwinden

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich hoffe Ihr seid alle wohlauf.

Katagiri Roshi: "Unser Leben ist oft wie ein Bund aus verwickelten Fäden. Die reine Energie des Lebens verkörpert sich als der beginnende Moment, doch nur einen Wimpernschlag später passiert etwas anderes. Wie aus dem Nichts ist diese Energie plötzlich verworren. Viele Fäden sind zu Knoten verwunden und viele Probleme erscheinen: Schmerzen, Leiden, Gefühlsbewegungen und Schwierigkeiten.

Ein Knoten entsteht aus vielen Bedingungen: Eurem Leben, dem Leben der anderen, aus der Natur, aus komplexen Ursachen und Wirkungen, aus vielerlei Umständen.

Wir können dieser menschlichen Situation nicht entkommen, wir müssen mit diesen Knoten umgehen."

Während man morgens in Zazen sitzt, taucht vielleicht immer zuerst die ganze aktuelle Welt der verknoteten Probleme im Raum des Bewusstseins auf, doch indem man sich in die Haltung hinein wendet, „gibt das Vorderhirn nach einer Weile auf“ und es gibt Platz für „etwas“, das darüber hinausgeht. Diesem „Etwas“ kann man sich anvertrauen und Herz und Geist werden einverstanden damit, Schritt für Schritt zu gehen. 

Meister Deshimaru sagte oft: „Alle Wesen leben durch die Kraft der kosmischen Ordnung oder der Schöpfung. Die kosmische Ordnung gibt uns diese Kraft, dieses Ki, rückhaltlos. Doch wir können diese Kraft nicht verwenden, um unser Ego zu bestätigen, sondern sie manifestiert sich nur im „„Sich-selbst-vergessen““ und dem Zusammenwirken mit allen Existenzen oder dem Ganzen.“

Unser Vorderhirn, unser Denken neigt dazu sich in alle möglichen Richtungen zu bewegen, sich darin zu verhaken, und wir müssen auch in Zazen die Geduld aufbringen, dies eine Weile geschehen zu lassen. Doch dann gibt es aus der Tiefe des Geistes, aus der Tiefe der Haltung heraus einen Impuls, einen Wechsel der „Frequenz“ oder der Wellenlänge. Ein anderer Pulsschlag wird spürbar. Das ist das Geschenk der Zazen-Haltung.

Während das Bewusstsein sich in diese neue Wellenlänge hinein öffnen und sammeln kann, lässt es gleichzeitig die begrenzenden Inhalte los. Während es die konditionierten Inhalte loslässt, kann es erfüllt werden durch die Gegenwart des Soseins.

Die Gegenwart des Soseins gibt uns die Möglichkeit unser „verknotetes Leben“ von Grund auf anzunehmen. Es bedeutet, dass wir die volle Verantwortung für unser Leben akzeptieren. Auf wundersame Weise lässt diese innere Haltung unser Leben und unseren Geist reifen.

Ohne diese Grundhaltung gegenüber menschlichen Wesen und der menschlichen Welt kann man schwerlich mit den schwierigen, leidvollen und miserablen Aspekten des menschlichen Lebens umgehen.

Wenn wir uns jedoch im Innersten des Geistes auf die ursprüngliche Buddha-Natur besinnen, können wir dem alltäglichen Leben mit einem tieferen Empfinden begegnen. Dann können wir Geduld haben und das Vertrauen, dass der Sinn sich zeigen wird.

Katagiri Roshi: "Versucht die reine Energie des beginnenden Augenblicks aufrecht zu erhalten. Und wenn Ihr bemerkt, dass Ihr im „Echo“ steckengeblieben seid, wendet Euch einfach zurück, um Eure reine, anfängliche Energie oder Geistverfassung wieder zu finden.

Wenn Ihr auf diese Weise mit den Knoten umgeht, werden auf natürliche Weise, einer nach dem anderen, die Knoten gelockert. Manchmal, wenn man eine Verwicklung gelöst hat, löst sich im Folgenden eine Verwicklung nach der anderen auf.

Eure Geduld selbst macht etwas mit den Knoten, sie wirkt auf sie ein mit einem ruhigen Geist, Stabilität und Sicherheit in Eurer Existenz.

Indem Ihr das Innerste des Lebens aller Existenzen berührt, könnt Ihr Buddha-Weg übermitteln an andere und allen fühlenden Wesen ihr Licht zurückgeben."

Das sichtbare und das unsichtbare Universum, wie auch die menschliche Welt, werden ständig durch ehrfurchtgebietende, unendlich große und gleichzeitig subtile, formende Kräfte geschaffen. Und es scheint fast so, als ob es in unseren Genen eine Erinnerung daran gibt. Sie zeigt uns von Neuem, dass wir Menschen nicht die Beherrscher des Universums sind, sondern seine Kinder.

Wir würden gerne diesen winzig kleinen Virus, der uns im Moment so umtreibt, aus unserer Welt entfernen. Doch wird dies vielleicht nicht allein von menschlichem Wissen und Können abhängig sein, sondern von einem Wirken, das darüber hinausgeht. Vielleicht geht es nicht um Kampf, sondern um den Geist der Nicht-Angst, um Verwandlung – in uns und der Welt.

Im tiefen, gemeinsamen Grund des vollständigen Universums ordnet sich die Energie des Lebens neu und von dort erscheint die Kraft, die die Gegensätze und Schwierigkeiten übersteigen kann: Verschiedenheit auf der Grundlage von Einheit, Einheit als Pulsschlag der Verschiedenheit, tiefer Respekt vor dem Leben des Universums und Mitempfinden.

Das Erwachen dieser Wirklichkeit in uns ändert radikal den Blickwinkel auf uns selbst – plötzlich betrachtet der Mond den Menschen - und dadurch werden die Welt und wir selbst in einen tieferen Zusammenhang gestellt.

Dieses Erwachen erweckt auch einen frischen Geist der Praxis und wir können tief empfinden, dass sie dazu da ist, die Wurzel unseres Lebens stark zu machen, so dass unser Leben „aus sich selbst schöpfend“ werden kann.

Die unergründliche Dynamik des Universums oder die Natur der Leerheit offenbart sich als das Zeitlose in allem. Dies tief und klar zu „sehen“, zu spüren aus dem Innersten des Geistes heraus, das ist der Weg und Erwachen. Das ist das Herz der Praxis und das Herz des Lebens durch den Weg.

Dann nehmen wir an etwas teil, an dem alle Existenzen teilnehmen und in das alle Existenzen verwoben sind – eine große, ruhige Bewegung, ein ruhiger Pulsschlag, der die zehn Richtungen durchdringt.

Mit diesem Hintergrund kann man „das leere Feld bestellen, den Mond fischen und die Wolken pflügen“.

Ich danke Euch allen von Herzen, bitte gebt gut auf Euch acht, bis bald

L. Tenryu

Teisho zum Wochenende der 3. Woche im April 2020

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