Aus dem Grund der Stille heraus leben
Zazen schenkt uns die Möglichkeit, den Grund der Stille des Geistes zu berühren und aus diesem Hintergrund heraus zu leben. Manchmal haben wir den Wunsch, am Grund dieser Stille zu bleiben, aber solange wir leben, können wir nicht dort bleiben, sondern werden durch die Aktivität, die Dynamik des kosmischen Lebens selbst, wieder an die Oberfläche gebracht, so wie Quellwasser, das vom Grund nach oben strebt.
Doch durch das Zurückkommen zum Grund des Geistes können wir tief verstehen, dass Grund und Oberfläche nicht getrennt sind. Darin liegt die Tiefe und die Freiheit unserer Praxis und unseres Geistes, ja, selbst die Befreiung unseres Lebens von der Enge des Ich.
Jeder Mensch der sich aufrichtig dem Zazen widmet, wird - oft unbewusst - diese Erfahrung machen und davon berührt sein, doch um wirklich tief zu verinnerlichen, dass Grund und Oberfläche nicht getrennt sind, braucht es eine fortgesetzte, immer aufs neue vertiefte Praxis einer Lebenszeit, Gyoji-Dokan, in der unser Leben selbst zum Ausdruck des „großen WEGES“ werden kann.
Wenn wir dies fühlen, bekommen die Kai und das Kesa eine wahre, tiefe und lebendige Bedeutung, eine eigene Realität. Sawaki Roshi sagte: „Das Kesa anlegen, sich den Kopf rasieren und sich in Zazen setzen ist die letztendliche Bestimmung unseres Lebens.“ Doch diese letztendliche Bestimmung ist kein Endpunkt, sondern der Ausgangspunkt einer größeren inneren Freiheit.
Katagiri Roshi: "An der Oberfläche des Bewusstseins (Manas) seid Ihr noch in der Welt der Konzepte und Vorstellungen. Doch wenn Ihr tiefer geht, berührt Ihr den Boden des persönlichen Bewusstseins (von Manas) und kommt zur Endstation Eures Lebens. Es gibt da keinen Raum mehr für uns, etwas durch unseren Willen zu tun.
Doch am Grund von Manas könnt Ihr etwas Weitem und Ewigem gewahr werden: Alayavijnana (das universelle Speicherbewusstsein), die eigentliche Energie Eures Lebens.
An der „Endstation“ Eures Lebens gibt es etwas wie einen dünnen, weichen Vorhang, der Euch scheinbar von der Ewigkeit trennt. Wenn Ihr praktiziert, könnt Ihr diesen Vorhang berühren. Wenn Ihr ihn berührt, wird etwas transparent. Diese Seite des Vorhangs ist die vergängliche menschliche Welt. Die andere Seite ist die ewige Welt.
Indem wir den Geist nach innen wenden, kommt der Augenblick, unser dualistisches Denken aufzugeben (Sampai zu machen), denn wenn man das Ewige berührt, gibt es nichts für unser Bewusstsein, um sich festzuhalten. Da ist wirklich nur: „Ich weiß nicht“!
Wir können nicht „wissen“, wie unendlich weit die menschliche Welt ist. Selbst wenn wir sie berühren, „wissen“ wir es nicht.
Glücklicherweise können wir ES direkt erfahren.
In der vereinigten Dimension der Welt wird die Endstation zum Ankunftspunkt, zum innigsten Augenblick, in dem es kein Empfinden eines getrennten Selbst gibt, das in unserem Gehirn unterschieden wird.
Letztendlich, auf sehr natürliche Weise, ist die Tiefe des Selbst wie die Tiefe der Welt, und Ihr seid gegenwärtig in dieser weiten Dimension der Existenz."
Die „Endstation“ ist in Wirklichkeit der Ausgangspunkt, um das Leben des ganzen Universums anzunehmen.
Oft verharren Menschen bis zum Tod in ihrer persönlichen Welt, und Tod und Sterben sind dann der oft schmerzliche Endpunkt. Doch was die Buddhas und Patriarchen uns übermitteln und vorleben, ist etwas anderes. Es ist nicht nur die passive Akzeptanz des Unvermeidlichen, ein sich in sein Schicksal fügen, sondern das Überschreiten einer Grenze der „Selbst-Gefangenschaft“.
Im Laufe unserer Praxis lernen wir dieses Gefangensein in all seinen Aspekten kennen, unsere Selbst-Täuschungen, Illusionen und blinden Begierden, aber indem wir uns in der Mitte davon ruhig Setzen, können sie transparent werden, und ihre Kraft kann sich in die Kraft des WEG-Geistes verwandeln.
„Der Welt der Illusion – die in uns auftaucht - nicht entfliehen und nicht in der Erfahrung des stillen Geistgrundes zu verharren“, ist das wahre Koan unserer Praxis. Was ist die Lösung? Vielleicht ein ganzherziges „Ich weiß nicht!!“
Doch in diesem „Ich weiß es nicht“ kann die ganze offene Weite liegen, „Kakunen Musho“, die Bodhidharma zum Ausdruck brachte als Essenz seiner Übermittlung des Dharma.
Als sein Schüler Eka sich „den Arm abschnitt“ war auch er an der „Endstation“ seines Lebens angekommen und konnte die Soheit des Universums annehmen.
Unser kleines Ich kann wieder und wieder in sich selbst hinein sterben, weil es Augenblick für Augenblick entsteht und vergeht. Wenn wir auf diese Weise in der Stille des Geistes „einmal ganz aufgeben“, können wir die „Endstation“ als große Weite erfahren, in der unser Leben neu wird. Dann leben wir nicht mehr nur durch „uns selbst“, sondern durch etwas, das wir nicht in Worte fassen können.
An diesem Punkt war Ekas Geist befriedet und er übermittelte diesen Weg in der Form des Zazen an den dritten Patriarchen Sosan, der ihn weitergab als die Essenz des „Glaubens des Geistes“. Wenn wir also die wahre Form unseres Lebens finden wollen, müssen wir bis zum „Endpunkt“ gehen. Genau dort sind wir „allein“ und gleichzeitig durchdrungen vom Grund aller Wesen.
Und wir werden große Dankbarkeit fühlen.
Katagiri Roshi: "In Zazen versuchen wir, so einfach wir können, präsent zu sein am Schnittpunkt von Raum und Zeit, da, wo dieser genaue Augenblick lebendig ist.
Alles was wir tun können, ist eins mit Zazen zu sein als dem Lebensrhythmus, und direkt mit Zazen zu kommunizieren durch den ganzen Körper und Geist. Dann, durch Eure Haut, Muskeln und Knochen, wird Zazen Euch die reine Natur menschlicher Aktivität lehren. Genau in der Mitte der ursprünglichen, lebendigen Qualität des menschlichen Lebens zu sitzen, nennt man Shikantaza. Da ist nichts anderes als die dynamische Funktion und ruhige Bewegung des Universums. Da ist nichts anderes.
Wenn Ihr Euer Leben einerseits erfahrt in der Konditionierung der menschlichen Welt und simultan als letztendliche Wirklichkeit, öffnen sich Möglichkeiten. Jeder Augenblick ist dann eine einzigartige Gelegenheit für Euch, Euer Leben neu zu erschaffen.
Mit diesen Worten von Katagiri Roshi möchte ich mich für heute von Euch verabschieden. Ich danke Euch von Herzen für Euer Zuhören. Bis bald.
L. Tenryu
1. Woche im Mai 2020