Die Stille praktizieren
Im Sandokai drückt Meister Sekito die stille Kraft der Ganzheit des Universums oder die Dynamik der Ganzheit des Geistes mit einem einfachen Beispiel aus. „Ein Schritt hängt ab vom Zusammenwirken des rechten und des linken Beines.“
Es muss das rechte und das linke Bein geben, aber sie sollten, wie z.B. beim Kinhin, zusammenwirken, aus einen Zentrum der Einheit heraus, „leer“ von sich selbst. Dann ermöglichen sie den Schritt, das Gehen und lassen damit den Weg lebendig werden, der wiederum bereits sein Ziel in sich trägt.
Ziel, Weg, die Schritte und die Beine bedingen sich wechselseitig. Das anfanglose Zusammenwirken von Allem mit Allem erzeugt und formt die Dynamik der Ganzheit in ihrem stetigen Wandel, und ist gleichzeitig Ausdruck ihrer ihr eigenen Energie. Im Zusammenwirken an sich, das auch Gegenpole umfasst, bildet sich beständig ein natürlicher Spannungszustand, der ohne Unterlass verschiedenste Arten von Wellen oder Schwingungen erzeugt. Sie verbinden sich zu einer dichteren Form, um dann wieder auseinanderzugehen (zu zerfallen) und in ihren Energie-Zustand zurückzukehren. Sie „werden Leerheit“, um dann in gewandelter Form von neuem zu erscheinen. Unser Leben und die ständige Wandlung von Körper und Bewusstsein sind Teil dieses anfanglosen Prozesses.
Obwohl wir in ganzherzigem Zazen „unbewegt“ sitzen, „gehen“ Körper und Geist doch zusammen, und die Haltung ist dann geprägt durch eine rechte innere Spannung, eine ruhige Schwingung, die durch das Zusammenwirken von Geist, Nervensystem und Muskulatur entsteht, oder anders gesagt, diese Haltung ist geprägt durch ein KI, eine geistig-körperliche Energie, die verbunden ist mit der universellen Lebenskraft und aus ihr genährt wird.
Ganzheit kann deshalb erfahren werden als eine durchdringende ruhige Präsenz des GANZEN in Körper und Geist, und als die Einheit von Körper/Geist, die nahtlos eingefügt ist in den universellen Hintergrund.
Das innere Berühren und berührt werden durch diese Realität oder Präsenz hinterlässt im Menschen eine tiefe Resonanz, die das Leben leiten, tragen und erfüllen kann. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes sinnschaffend. Diese Resonanz verlagert das Sinngebende des Lebens von äußeren Erfolgen und dem Erreichen müssen in die innere Welt des beständig werdenden Soseins. Und diese innere Welt des Soseins übt ihrerseits einen tiefen Einfluss aus auf die „äußere Welt“.
Menschen wie Shakyamuni oder die ihm nachfolgenden WEG-Menschen, die den Frieden der letztendlichen Ganzheit tief in sich selbst verwirklicht hatten, wurden zu einem wesentlichen Bezugspunkt und Ideal für Generationen von Menschen. Ihre Geisteshaltung und ihre Praxis dieser Ganzheit spiegeln sich wider über viele Jahrhunderte bis in unsere Zeit, in Kultur, Kunst und respektvollem menschlichen Miteinander und darüber hinaus in einer vertrauten Weitergabe der Essenz des Weg-Geistes „von Herz-Geist zu Herz-Geist“. Die Praxis diente dabei als Gefäß des Wesentlichen und wurde gleichzeitig zum Ausdruck einer tiefen Verbundenheit aller Wesen. Diese vitale Ganzheit, als die ursprüngliche Natur aller Existenz, kann in der aufrichtigen Praxis eines jeden Menschen wieder lebendig werden. Doch sie kann nur aus einer lebendigen Verwirklichung heraus übermittelt werden. Da liegt der Sinn oder das Wesen der authentischen Weitergabe des Weges „von Angesicht zu Angesicht“.
In einer authentischen Praxis brauchen wir, als Gegenpol zu unserem eigenen Impuls, ein verkörpertes Beispiel des lebendigen Ausdrucks des Weg-Geistes. In gewissem Sinne brauchen wir ein „berührbares Ideal“. Ohne es zu sehr zu idealisieren, brauchen wir dieses „Gegenüber“ um unserem eigenen Impuls und unserer eigenen formenden Kraft Richtung zu geben und Spiegelung. Deshalb haben, in einem rechten Weg-Geist, Lehrer und Schüler ihre jeweils eigene Stellung, sind gleichzeitig unabhängig voneinander und tief verbunden, und folgen der Richtung des Morgensterns, die über sie beide hinausgeht.
Wenn wir wirklich tiefer verstehen wollen, dann suchen wir gerade eine Situation der intensiven Schulung, um auf einer authentischen Grundlage, in einer dann darauf gründenden kreativen Weise, etwas zur Reife zu bringen und zu fördern - unser eigenes Leben, das der Anderen und darüber hinaus das, was wir Buddha-Dharma nennen.
Um das Kreative, Intuitive entstehen zu lassen, sollten wir uns frei machen von unseren persönlichen Vorlieben und gewohnheitsmäßigen Vorstellungen. Es kann gerade dann entstehen, wenn wir eine Form und Handlung verinnerlichen, die es Körper und Geist ermöglichen, „die Vorstellung von sich selbst zu vergessen“, um sich so ganz auf den Augenblick, die Anderen und die Situation einzulassen. So kann ein Miteinander verwirklicht werden, in wahrem Respekt und tiefer Dankbarkeit. Ein vom Anhaften an „persönlichem Zeugs“ befreites Miteinander kann den Raum schaffen, in den hinein wir uns selbst noch tiefer öffnen können, und in dem wir gleichzeitig „allein sein“ können. Das ist eine Voraussetzung dafür, unsere eigene Begrenztheit sehen, annehmen, und verwandeln zu können. Verwandlung setzt Gewahrsein und eine wahre Art von Reue, ein „inneres sich Bekennen“ voraus. Sie ist nicht nur ein Akt des Willens, sondern im Wesentlichen eine Kraft des Zusammenwirkens und des „sich Einlassens“.
Doch der Impuls dazu sollte aus uns selbst kommen oder in uns selbst angestoßen werden.
Wenn Körper und Geist mit diesem Hintergrund in der Handlung zusammenfinden, und die Handlung mit der Zeit, dem Augenblick eins wird, ist dies wie „die Lanze die den Pfeil trifft im Flug.“ Ein fast magischer und dennoch natürlicher Moment.
Solche Momente des Lebens können, wie die Punktstiche in der Naht eines Kesa, mit der Zeit eine starke Linie der Kraft bilden, die unser Leben tragen und ausrichten kann. Dieses Tragen und Ausrichten geschieht nicht durch die Zeit und das Leben allein, sondern gemeinsam mit dem Akt des „sich Hineinwendens“, des „sich Bemühens“ und „sich mit ganzem Herzen Hingebens“ an die Praxis. Wenn diese beiden Seiten zusammenklingen, ist unser Leben geborgen im zeitlosen Körper der Ganzheit des Universums und kann sich zu einem „fruchtbaren Feld des wahren Glücks“ entwickeln.
Ungeahnte Ursachen und Bedingungen können dann heilbringend zusammen kommen im Jetzt und eine neue Frucht hervorbringen.
Den Weg zu üben, und gerade auch zusammen den Weg zu üben, bedeutet dann dieses große unbegrenzte Feld der Ganzheit zu bestellen. Es ist zu groß und zu tiefgründig, um in unsere Kategorien zu passen. Wir sollten einfach weit genug in die Ganzheit hineinwachsen, um es in unserem Herzen ganz anzunehmen.
So ist es im Vers des Kesa ausgedrückt: „Mu so fuku den e ... Unbegrenztes Feld der heilsamen Ursachen und Wirkungen. Ich schätze mich glücklich es zu empfangen, um alle Wesen zu unterstützen“.
Wenn wir das Kesa anlegen und dann in Zazen sitzen, können wir tief diese Resonanz und Verbundenheit empfinden.
Herzlichst
L. Tenryu
April 2021