Die Einheit von „Quelle und Nebenflüssen“ im ewigen Augenblick und dem Kreislauf der Zeit.

Unser Leben findet immer als „dieser Augenblick“ statt, doch können wir dieses Jetzt und seinen Inhalt, seine Substanz nicht fassen oder festhalten. Dieser Augenblick gibt seine Energie und sich selbst weiter an den nächsten Augenblick, wenn wir ihn lassen. Dazu braucht er jedoch eine authentische Form oder Haltung. Am Ende einer jeden langsamen, sachten, subtilen Ausatmung in der rechten Haltung, können Körper und Geist den Schnittpunkt von Zeit und Raum berühren, und an diesem Schnittpunkt können Körper und Geist, Zeit und Raum eins werden - sich von zu viel „Ich“ entleeren und einen neuen Impuls setzen. Da wird die Kraft der Quelle spürbar und durchdringt direkt die „Nebenflüsse“. Durch diese nie versiegende Quelle erhalten die Nebenflüsse ihr Leben und bringen sich wandelnde Landschaften des Lebens hervor, durch die wiederum die Quelle genährt wird. Ein Kreislauf erneuert sich.

Ein alter Meister sagte:

Am Schnittpunkt von Raum und Zeit wirken die Kräfte des abhängigen Entstehens und die Natur der Leerheit zusammen und die Welt, unser Leben erscheint.

Im Raum hat die Zeit kein Vorher noch Nachher. Es gibt nur die allumfassende Gegenwart, in der unser Leben erblühen und sich in das ganze Universum ausdehnen kann.

Solches Hier und Jetzt ist eine große Gelegenheit. Es ist der eigentliche Augenblick, in dem Ihr Ihr selbst werden könnt, noch vor dem Aufkeimen des Denkens. Dafür müsst Ihr vollständig in der Zeit absorbiert sein. Die Kraft dieses Augenblickes der Leerheit wird Euer Leben im Universum lebendig machen, und so könnt Ihr auf neue Weise bereit sein zu handeln und etwas bewirken.

Wenn Eure Praxis frei wird von zu viel „Ich“, gibt es keine Trennung zwischen Übung und Erwachen. Sie sind dann eine lebendige Verfassung des Seins, die nichts anderes erreichen muss und die etwas aus ihrem Inneren in die Umgebung ausstrahlt.“

Die Natur, wie auch unser Leben, sind allumfassende Gegenwart, und gleichzeitig funktionieren sie in sich selbst erneuernden Kreisläufen wie z.B. dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Wechsel von Tag und Nacht, von Aktivität und Ruhe. Von außen betrachtet scheinen diese Abläufe fast mechanisch gleich zu sein, doch im Inneren erlebt, ist jeder Augenblick und jedes Ereignis existentiell und immer wieder neu.

Lebendige Kreisläufe folgen einer inneren Gesetzmäßigkeit, deren Impuls der ewige Augenblick ist. Deshalb sind sie niemals ganz in sich selbst abgeschlossen oder isoliert, sondern atmen zusammen mit dem tiefen, unergründlichen Gesetz der kosmischen Ordnung, und erhalten vielerlei Einflüsse von anderen lebendigen Kreisläufen. Unser Leben wird genährt und getragen durch diese unergründlich tiefen und gewaltigen Kräfte. Wir atmen direkt darin, in der Mitte davon, und jede Zelle unseres Körpers ist daran beteiligt. Also ist unser Leben Teil dieser großen Aktivität.

Würde die Natur und unser Leben nicht auch in Kreisläufen funktionieren, könnten wir uns nicht auf den Frühling freuen oder auf den Sommer. Unsere Zukunft wäre ein „Vakuum“, das wir nicht ertragen könnten. Es ist für uns wesentlich das Frühling, Sommer, Herbst und Winter immer von neuem aufeinander folgen und dennoch fühlen wir, dass jeder Frühling neu ist, in seiner Struktur und Erscheinung gleich und doch nicht vergleichbar, vertraut und doch direkt aus der Leerheit geboren.

Die Kraft, die alle Erscheinungsformen trägt, ist die unauflösbare Verbindung einer ewigen, unergründlichen Gesetzmäßigkeit mit der Einzigartigkeit jedes Augenblicks. Das ist ausgedrückt mit dem Wort „Dharma“. Wenn Körper und Geist still werden in Zazen, können wir die direkte Verbindung unseres Lebens mit dieser Wirklichkeit des Dharma spüren und erfahren.

Quelle und Nebenflüsse sind ineinander enthalten, und gleichzeitig sind beide Teil eines Kreislaufes, in dem sie sich wechselseitig erneuern. Nebenflüsse verschmutzen manchmal, oder ihr Wasser stagniert, aber das bleibt nicht so, denn Landschaften, Temperatur und Wind bringen Regen hervor, der die Quellen erneuert, und so werden die Flüsse von neuem gereinigt.

Ähnlich verhält es sich mit der Natur des Geistes. Unser Bewusstsein kann nicht immer „rein und sauber“ bleiben. Es beschmutzt sich in den Aktivitäten des alltäglichen Lebens, aber wenn wir um die Natur dieser Beschmutzung wissen, können wir zur Quelle zurückkommen.

Deshalb, auch wenn sich unser Bewusstsein in Gedankengebilde, Träume oder Ängste verwickelt – und das geschieht oft - lasst uns nicht damit hadern, sondern einfach zurückkommen zu Haltung und Atmung!

In diesem Zurückkommen zu Haltung und Atmung müssen wir authentisch und wahrhaftig sein oder werden. Alle möglichen Welten können auftauchen im Raum des Bewusstseins, doch wenn wir authentisch, wahrhaft sind im Zurückkommen, kann sich die Samsara-Welt in den ewigen Augenblick verwandeln, und auch der Schmerz, der Teil unserer Existenz ist, kann sich verwandeln in eine tiefe Freude zu leben.

Ein alter Meister sagte:

Den innersten Augenblick zu berühren, auch das Innerste des Schmerzes, bedeutet die letztendliche Tiefe der Schöpfung zu berühren. Während dies geschieht, gibt es keine Wahrnehmung von Euch selbst. Ihr seid Muga - leer von Euch selbst, doch was Ihr nach dem Zurückkommen fühlen könnt, ist so etwas wie eine tiefe innere Resonanz.

Eine Tür schwingt auf in die Welt des ewigen Augenblicks und schwingt wieder zurück in die Welt der vergehenden Zeit. Wenn Ihr die Welt der Leerheit berührt, berührt Ihr so etwas wie die Rückseite oder den Hintergrund Eurer Existenz.

Im nächsten Augenblick, taucht Ihr wieder auf der Vorderseite auf und könnt dann intuitiv spüren, dass die beiden Seiten eins sind. Dann versucht Ihr nicht mehr der Welt der Phänomene zu entfliehen.

Sobald Ihr mit einer gewissen Resonanz solcher Erfahrung in die dualistische Welt zurückkehrt, könnt Ihr dies als  'Glauben des Geistes', spüren, und dieser Glaube des Geistes kann die Grundlage für Euer Vertrauen und für Eure Zuversicht in das Leben als Weg werden.“

Dieses vergehende Leben kann durch die Übung des Weges verwandelt werden in eine wunderbare Blume und Frucht, die den neuen Frühling und Sommer mit sich bringt.

Während das Leben Augenblick für Augenblick in den ewigen Kreislauf hinein vergeht, wird es verwandelt. Doch eine tiefe Verwandlung wird nicht allein durch die Zeit bewirkt, sondern innerhalb des lebendigen Kreislaufs auch durch die Kraft der Praxis, die Kraft des Geistes, dessen Wurzel die unfassbare Quelle ist, jenseits aller Worte.

Herzlichst 

L. Tenryu

2. Woche im Februar 2021

© Zen-Vereinigung Deutschland e.V.  2007-2024
Logo urheberrechtlich geschützt.