Der ursprüngliche Klang unseres Lebens

Viele Menschen glauben, das zu leben bedeutet, viel Lärm zu machen. Doch am Ende verlieren sich Menschen oft in den Wellen, die sie selbst erzeugt haben, ohne sich dessen gewahr zu sein. Im Prozess einer inneren Umkehr können wir jedoch dessen gewahr werden, dass wir uns, aus einer tief sitzenden Gewohnheit, seit anfangloser Zeit selbst an das Rad der Samsara-Welten binden. Lange Zeit verstehen wir nicht, dass die Befriedigung unserer Wünsche selbst neues Verlangen erzeugt und wir so selbst die Ursachen des Leidens schaffen.

Eine wahre Praxis erlaubt es uns diesen Kreislauf zu unterbrechen und in Zazen kann unser Leben seinen ursprünglichen Klang wiederfinden. Wenn wir uns in Zazen setzen, realisieren wir am Anfang oft, dass unser Bewusstsein laut ist und viele Wellen macht, und dass wir auch Teil der Welt der Unwissenheit sind. Doch eine ganzherzige Praxis gibt uns sowohl die Möglichkeit diese Wellen nicht weiter anzuheizen – als auch nicht vor ihnen fliehen zu müssen, um so den ruhigen Ort der reinen Quelle in der Tiefe unseres Geistes zu finden, in dem die Kraft eines blinden, übermäßigen Verlangens verwandelt werden kann, in eine aus sich selbst schöpfende Erfüllung.

„Selbst die sich am Ufer brechenden Wellen werden zu Licht“, sagt Dogen Zenji im Sanshodoei. Man könnte auch sagen: „werden zu reinem Klang“.

In dem Körper-Geist und die Zeit zusammen kommen, verliert der Wind der Bonno und des blinden Verlangens seine Kräfte und eine ursprüngliche Lauterkeit, ein reiner Klang kann unbewusst natürlich wieder auftauchen, aus unserem Innersten heraus. Es ist fast so als ob das Licht des Mondes die Wellen beruhigt, und ein reiner Klang kann sich ausdehnen und die ganze Umgebung durchdringen.

Wenn wir eine Glocke anschlagen, wie z.B. in der Nacht zum 1. Januar, ertönt ein Klang und setzt sich weiter fort, selbst wenn unsere Ohren ihn nicht mehr hören. Auf ähnliche Weise wirkt etwas in unser Leben hinein, auch nachdem wir von Zazen aufgestanden sind. Und selbst wenn der Klang scheinbar verklungen ist, bleibt er als Potential, als Resonanz, als Erinnerung durch den ganzen Körper, und setzt den Impuls für ein neues Anschlagen der Glocke. Das Anschlagen der Glocke, ihr Klang und der geistige Impuls es von neuem zu tun, offenbaren sich als eine Dynamik. Der Klang der Glocke, der sich ausdehnt, wirkt nicht nur in unser Leben hinein, sondern berührt und durchdringt auch die ganze Umgebung, als eine heilende Kraft zum Wohl aller Wesen.

Klang, Form, Zeit und unser Geist können im Moment der ganzherzigen Praxis eine Energie werden und zum Ausdruck eines „großen Geistes“, einer wirklichen Verkörperung der „lebendigen kosmischen Ordnung“. Diese Energie, dieser Geist, entsteht in der innigen Berührung der Natur des Seins und bringt eine fast vergessene Seite in uns zum Schwingen.  Da können wir ein großes Potential der Verwirklichung finden, und die Quelle einer durch sich selbst sprechenden Erfüllung, eingebunden in das Netzwerk der gesamten Schöpfung. Wenn wir dies an Andere übermitteln können ist das von unschätzbarem Wert.

Sawaki Roshi sagte: „Wenn Du nicht am Seil der Praxis ziehst, kann die Glocke, die über Dir im Turm hängt, nicht erklingen.“

Wir sollten deshalb nicht unsere Zeit damit verschwenden nach der Glocke als Objekt zu suchen, denn sie offenbart sich allein durch ihren Klang und nimmt durch ihn ihre wahre, lebendige Form an. Wir können uns glücklich schätzen den Weg einer authentischen Praxis gefunden zu haben und diese Praxis ausüben zu können in Verbundenheit mit vielen Anderen.

Unter „normalen Umständen“ würden wir uns am Jahresende zur gemeinsamen Praxis treffen und um Mitternacht des 31. Dezember die Glocke schlagen, als lebendiges Symbol der Ausrichtung unseres Lebens. Selbst wenn wir es dieses Jahr nicht in der gewohnten Weise tun können, so kann doch jeder in der innersten Stille seines Herzens den Klang der Glocke lebendig werden lassen.

Ausrichtung unseres Lebens bedeutet, dass wir uns der Natur unserer „Illusionen“ gewahr werden. Illusionen die aus langer Gewohnheit des blinden Anhaftens entstanden sind. Und es bedeutet auch, dass wir unser Inneres klären können von zu starkem Anhaften an die Welt unserer Wünsche, des Verlangens und Erhalten-Wollens.

Es gibt in diesem Ausrichten einen Moment von tiefer innerer „Reue“, SANGE, „sich ein Herz fassen“ und dann einen Impuls eines frischen, neuen Aufbruchs.

Wenn wir auf diese Weise die „Hände des blinden Ergreifens öffnen“, werden wir die Richtung des Morgensterns unmittelbar wiederfinden können, aufgrund des Kompasses der ursprünglichen Buddha-Natur in uns selbst, der sich in seinem Erwachen neu ausrichten kann, wie eine Pflanze die sich automatisch dem Licht zuwendet. So kann der ursprüngliche Klang unseres Lebens uns neuen Mut und Zuversicht geben, und so unvollkommen unsere Praxis auch sein mag, wir bringen in diesem Ausrichten unseres Geistes und unseres Lebens den tiefen Wunsch zum Ausdruck, sie zum Heil aller Wesen weiter auszudehnen.

In diesem Sinne von Herzen die besten Wünsche für das neue Jahr, das im Zeichen des Büffels steht, einer ruhigen, entschiedenen Beständigkeit und Klarheit. Euch allen viel Glück, Gesundheit und Freude trotz der Schwierigkeiten. Und mit der Zuversicht, dass wir uns in diesem neuen Jahr wieder regelmäßig zur gemeinsamen Praxis zusammenfinden können, ohne zu große Hindernisse.

(Wir können die Zeremonie der 108 Glockenschläge und des Neujahrs-Sampai später im Jahr nachholen, wenn die Lebenssituation hoffentlich für alle unbeschwerter ist. Ich hoffe schon im Februar.)  

Von ganzem Herzen Dank an alle für die große Unterstützung das ganze Jahr hindurch.

L Tenryu Dezember 2020

© Zen-Vereinigung Deutschland e.V.  2007-2024
Logo urheberrechtlich geschützt.