Alle fühlenden Wesen retten

Liebe Freundinnen und Freunde,

einen guten Morgen zusammen an einem weiteren Tag in der fließenden Zeit.

Wir können jetzt seit einigen Tagen wieder im Dojo zusammen SITZEN, wenn auch mit einer begrenzten Teilnehmerzahl und einem vereinfachten Ablauf, doch ich denke, alle wertschätzen diese Möglichkeit.

Die vergehende Zeit löst am Grunde unseres Geistes einen Schmerz aus, dem wir nicht entkommen können. Das liegt daran, dass das Leben vergeht, ohne dass wir seine Natur „begreifen“ könnten. Das ist so für alle fühlenden Wesen. Doch ist dieser Schmerz gleichzeitig der Erweckungspunkt des Weg- suchenden Geistes. In der rechten Haltung von Körper und Geist können wir diesen Schmerz ganz annehmen und klar und rein werden  lassen. Und dann kann sich dieser Schmerz wandeln. Er kann sich verwandeln in die Kraft tiefer Verbundenheit mit allen Existenzen und in die Kraft eines ruhigen Entstehens im JETZT. Im Buddha-Weg sagt man: In dieser innersten stillen Natur des Seins sind alle Wesen befreit und aufgehoben. Dieses vergehende Leben kann durch die Übung des Weges verwandelt werden in eine wunderbare Blume und Frucht.

Kiya, „die Kraft ruhigen Entstehens“ bedeutet, dass aus Samen, Erde und der Zugabe von Dünger eine neue Pflanze wächst, genährt durch Licht und Wasser. Unzählbare Ursachen und Bedingungen kommen zusammen im Jetzt und lassen eine Frucht heranreifen. Den Weg zu üben, gemeinsam den Weg zu üben, bedeutet ein großes unbegrenztes Feld zu bestellen, auf dem eine Frucht wachsen kann, in der die Befreiung aller Existenzen geschieht. Das ist eine Bedeutung des Kesa: „Mu so fuku den e ...“ ein unbegrenztes Feld des Glücks als die ursprüngliche Heimat aller Wesen. Da wo Zeit, Raum und dieser Geist, dieses Selbst verwoben sind, entsteht das fruchtbare Feld. Es ist zu groß und zu tiefgründig, um in unsere Kategorien zu passen. Aber wir können durch seine Kraft weit genug wachsen, um es ganz anzunehmen.

Dogen Zenji sagte: „Jeder Augenblick des Seins verschwindet im ruhigen Entstehen des nächsten Augenblicks“.

In solchem ruhigen Entstehen sind die Schnelligkeit der Zeit und ihre unbewegte Tiefe ineinander aufgehoben und werden die stabile Grundlage der Würde des Seins – wie ein großer Berg, der aus dem Morgennebel auftaucht. Die Energie dieses ganzen Augenblicks jetzt ist unser Leben. Jeder sollte einen tiefen Geschmack davon in sich selbst erhalten und erinnern, denn in seinem Inneren vermittelt ein solcher Augenblick die stille, würdevolle, „leere“ Natur des ganzen Universums. Es ist ein „zu Hause ankommen“, gemeinsam mit allen Existenzen.

Ein alter Meister sagte: „Den Augenblick zu berühren bedeutet, die letztendliche Tiefe der Schöpfung zu berühren. Während dies geschieht, gibt es keine Wahrnehmung von Euch selbst. Ihr seid Muga - leer von Euch selbst, doch was Ihr nach dem Zurückkommen fühlen könnt, ist so etwas wie eine tiefe innere Resonanz aus einer „verborgenen“ Welt der Stille. Eine Tür schwingt auf in die Welt des ewigen Augenblicks und schwingt wieder zurück in die Welt der vergehenden Zeit. Wenn Ihr die Welt der Leerheit berührt, berührt Ihr so etwas wie die Rückseite oder den Hintergrund Eurer Existenz. Wenn Ihr mit einer gewissen Resonanz solcher Erfahrung in die dualistische Welt zurückkehrt, wird  sie zum „Glauben des Geistes“, und dieser Glaube des Geistes wird die Grundlage für Euer Vertrauen und für Eure Zuversicht in das Leben als Weg.“   

Katagiri Roshi: "Als Shakyamuni Buddha unter dem Bodhi-Baum das Erwachen erlangte, sagte er: „Zusammen mit allen Existenzen habe ich simultan das Erwachen erlangt.“ In diesem Moment gab es keinen Spalt zwischen allen fühlenden Wesen und Shakyamuni. Das ist Nichtdualität - das vollkommene Einssein. Das Einssein ist Eure ursprüngliche Natur. Es ist der ursprüngliche Zustand des Lebens – des Lebens einer Pflaumenblüte, eines Baumes, eines Kiesels, eines Berges und Eures Lebens. Aber Ihr könnt nicht über Nacht eine solche Erfahrung machen. Deswegen praktizieren wir eine lange Zeit.

Die Dharma-Welt ist eine allumfassende Welt, in der die menschliche und die spirituelle Welt innig miteinander verbunden sind, um eine größere Welt zu erzeugen. Die lebendige Natur des Dharma ermöglicht es dieser wechselseitig von einander abhängigen Welt zu funktionieren. Nehmt z.B. einen vielfarbigen Spielzeug-Kreisel. Die verschiedenen Farben verkörpern die individuellen Welten aller Lebewesen. Wenn der Kreisel sich dreht, vergessen sich die Farben selbst und fließen in einer Farbe zusammen. Diese Bewegung ist die reine Natur des Dharma. Es ist die Moment-Energie eines Augenblicks der Zeit. Dieser eine Moment hat keine Länge, keine Breite – nichts. Er ist keine fixe Idee; er ist ein Ereignis.

Dogen nennt es Sein-Zeit.

Ein Moment der Zeit ist das Leben aller Existenzen. Alles was wir tun müssen ist also, einen Tag nach dem anderen, ein Jahrhundert nach dem anderen, in diesem Moment zu leben. Dies ist unsere Zen-Praxis. So kann Euer Leben  ruhig werden und gleichzeitig auf eine dynamische Weise lebendig sein, das ist Anjin, friedvoller Geist. Der friedvolle Geist wird eins mit dem Inhalt eines Momentes. Es ist die Verschmelzung Eures eigenen Lebens mit dem Leben aller Wesen im Universum. Deshalb, Euer wahres Selbst ist eine Art Energie. Es ist die ursprüngliche Energie, die im eben einsetzenden Moment ständig aufkommt. Auf diese Weise wird das Selbst das gesamte Universum.    

Einssein ist unsere Basis, der Ausgangspunkt, an dem wir aufstehen können als Nachkommen von Buddha. Es ist das Fundament, auf das wir unser Leben aufbauen. Das „ewige Leben“ ist dann in Eurem Herzen und Ihr könnt Euer Leben mit anderen teilen, ohne hochmütig zu sein. Das ist der Zeitpunkt der Reife, um den Weg zu übermitteln und um fühlende Wesen zu berühren, „zu retten“."

Wir sollten tief verstehen, dass die Befreiung aller Wesen zu tun hat mit der Befreiung des Geistes in unserem Inneren. Wenn wir im Angesicht des großen Leidens und der Ungerechtigkeiten in der Welt nur unseren Emotionen und unserer persönlichen Sicht folgen würden, wären wir schnell verstrickt in Kampf und Krieg. Es gibt einen Grund dafür, dass die großen Weisen nicht diesen Weg wählten. Selbst wenn unsere Praxis unvollkommen ist, so ist doch jeder Tag ein neuer Tag, an dem wir das „Unerreichbare“ erreichen oder berühren können, denn es ist nicht weit entfernt.

Ich danke Euch für Eure Geduld, herzlichst

L. Tenryu

2. Woche im Mai 2020

© Zen-Vereinigung Deutschland e.V.  2007-2024
Logo urheberrechtlich geschützt.