Die Energie des Lebens – die Lebenskraft, die uns gegeben ist.

Liebe Freundinnen und Freunde

Euch allen von Herzen einen guten Tag.

Zunächst möchte auch ich an dieser Stelle sagen: Unser größter Respekt gilt allen, die in dieser Situation im Gesundheitswesen und anderen Aufgaben zur grundlegenden Versorgung der Menschen arbeiten. Auch in unserer Sangha gibt es viele, die darin involviert sind. Alle werden sicher gerne aktiv mithelfen, um diese Krise zu bewältigen, doch aufgrund des komplexen Problems muss auch für viele Ihr „Tun“ einfach darin bestehen, zu Hause zu bleiben. Wie können wir damit umgehen? 

In der Übung des Weges versuchen wir unser Leben und - Existenz an sich - tiefer zu verstehen und zu leben. Was bedeutet das in der gegenwärtigen Situation?

Wir sollten nicht vergessen, dass es neben oder hinter dem sichtbaren „Tun“ auch noch die Dimension geben muss, die alles „Tun“ stützt. Diese Dimension ist die Verbundenheit von allem mit allem im wechselseitigen Ineinander-Wirken, in der Tiefe einer großen friedvollen Stille die ohne Ausnahme alles trägt. 

In dem wir Herz und Geist der Tiefe dieser kraftvollen Stille übergeben, können wir, in Verbundenheit mit der tiefgründigen Aktivität und Dynamik dieser Stille und im innigen Zusammenwirken mit ihr, etwas bewirken, auch wenn wir es nicht objektiv fassen oder beschreiben können. Der erste Schritt dazu ist immer das „Zurückkommen“ zu diesem Hintergrund, der alles trägt, zu dieser umfassenden Natur des Geistes.

Obwohl wir unsere Praxis weder mit dem abstrakten Ziel „für uns selbst oder für andere tun“, können wir sie, auf der Grundlage ihres Wirkens in einer tieferen Dimension, doch allen Wesen widmen. In der tiefgründigen Verbindung des eigentlichen Selbst mit allen Wesen und dem Lebensstrom an sich, können unsere Hoffnung, unser Vertrauen und unsere Zuversicht lebendig bleiben, sich erneuern.

Deshalb ist auch das ganzherzige Zazen oder Sampai einer einzigen Person etwas das etwas bewirkt. Indem Ihr Eure Haltung ganz ausübt, eben gerade auch wenn Ihr alleine sitzt, unterstützt Ihr alle Wesen und schafft einen guten, heilsamen Einfluss. Und Ihr könnt für Euch selbst einen neuen Raum im Jetzt eröffnen.

Alle Buddhas und Patriarchen übermittelten „diesen Glauben des Geistes“.

Shakyamuni Buddha sagte: „Wenn Ihr etwas sucht, worauf Ihr Euch stützen könnt, stützt Euch auf die Realität des Dharma und auf Euer großes Selbst.“ 

Katagiri Roshi kommentierte dies so: „Die große Realität und Dein ursprüngliches Selbst sind nicht zwei. Sich auf dieses Selbst zu stützen meint, sich auf den Dharma zu stützen. Wer auch immer Du bist, wo auch immer Du bist, was auch immer Du tust, Dein Leben ist bereits gegenwärtig in realer Wirklichkeit. Das ist Dein wirkliches Selbst, Dein wahres Selbst. Um diese Wahrheit zu verwirklichen, musst Du auf Dein kleines, lautes Selbst aufpassen, durch Dein großes, ruhiges Selbst. Dann, zu dieser Zeit, wird Dein Leben friedvoll und erhält festen Grund.  Euer eigentliches Selbst ist immer mit Euch. Ihr könnt ihm nicht entkommen. Letztendlich ist dieses Selbst das einzige, in das man sein volles Vertrauen legen kann.Wenn Ihr lernen wollt, was menschliches Leben wirklich ist, und die Wahrheit in Buddhas Lehren herausfinden wollt, gibt es keinen anderen Weg als mit Euch „selbst“ vertraut zu werden. Diese eine Sache, auf die Ihr Euch wirklich stützen könnt, solltet Ihr klären und ganz erforschen. So, anstatt euer Leben nur durch ein enges selbstbezogenes Teleskop zu sehen, öffnet immer wieder Eure Augen, um mit einer umfassenderen Perspektive zu sehen. Um menschliches Leben umfassend zu verstehen, müsst Ihr tief in Euch selbst hineingehen, hineinforschen. Verschafft Euch Klarheit über das, worauf Ihr hinsteuert. Die Tiefe des Lebens ist Eure eigentliche Bestimmung, doch haftet nicht daran als ein objektives Ziel.“

In einer Situation, in der unsere gewohnten Sicherheiten stark in Frage gestellt werden und nicht mehr selbstverständlich sind, bemerken wir vielleicht schmerzlich, dass unsere Erfahrung der Ganzheit des Lebens noch nicht tief genug ist, um eine solch schwierige Seite der Realität ganz zu umfassen und anzunehmen. Doch das heißt nicht, dass wir nicht von Neuem unseren Geist öffnen, weiten und noch tiefer gründen können. Der Geist des Buddha bewertet uns nicht, und der Weg des „den Geist Öffnens“ kennt kein Ende. Solches „sich öffnen“ geschieht simultan mit dem „Vergessen“ des alten Ich, in einem Augenblick, indem wir in unserem Herzen ganz aufrichtig werden mit uns selbst.

Der Gedanke oder Wunsch, nur uns selbst zu retten, würde uns nicht glücklich machen oder inneren Frieden bringen.

Doch das Vertrauen, die Geisteshaltung, unsere Praxis durch die Aktivität des ewigen Buddha allen Wesen zu widmen, bringt uns direkt zurück in unsere eigentliche Mitte und hilft allen Wesen, auch wenn das WIE einer größeren Kraft überlassen ist. 

Katagiri Roshi: „Dogens „Vergessen des Selbst“ ist derjenige Geist, der realisiert, dass das Selbst keine bestimmte Substanz hat, an die man sich klammern kann. Das bedeutet, vollkommen mit dem Rhythmus des Lebens an sich zu verschmelzen, eingefügt zu sein, und die wahre, tiefe Bedeutung von Existenz zu erfahren. In einem solchem Moment des Eintauchens verwirklicht Ihr, unbewusst natürlich, Euer wahres Selbst. Indem Ihr Euch der großen Dimension Eures Selbst zuwendet, werdet Ihr erfahren, dass Euer Leben gestützt wird durch die ganze Welt und dass Euer Leben die ganze Welt stützt. Dann hat Euer Leben Weite. Es umfasst alle Wesen und beeinflusst alle Umstände und lässt Euch an der Dynamik des Ganzen teilnehmen, teilnehmen an den wundervollen Düften eines neuen Frühlings.“

Das Eingefügtsein dieses Selbst ist auch vergleichbar dem Spiegelbild des Mondes auf dem fließenden Wasser. Der Fluss fließt, aber das Spiegelbild des Mondes schwimmt nicht weg, es ist da, stabil, vom fließenden Wasser getragen und nicht von ihm getrennt. Doch wenn man es ergreifen wollte, bekäme man nichts zu fassen. Das Ganze ist präsent als eine lebendige Szenerie, in der alles ineinander eingefügt ist. 

Katagiri Roshi: „Wenn Ihr Euer Leben verstehen wollt, solltet Ihr beide Seiten verstehen: den alltäglichen, praktischen, vergehenden Bereich des Zeitprozesses mit seinem komplexen Karma, seinen komplexen Verflechtungen von Ursachen und Wirkungen und den ewigen Bereich des zeitlosen Potentials, des „zeitlosen Raumes“. Dann könnt Ihr ein Gewahrsein entwickeln für den „Ort“ an dem diese beiden Aspekte des Lebens vereint sind. Das ist der „Schnittpunkt“ von Zeit und Raum - der wahre Ort des Seins“

Von diesem „wahren Ort des Seins“ aus sollten wir, und alle Menschen, die Ursachen und Wirkungen, das komplexe Karma der modernen, einseitig globalisierten Welt, neu reflektieren und ihre Konsequenzen wahrhaftig erfühlen. Es ist eine sich ständig wandelnde Welt, die auch immer in uns stattfindet. Und alle können sich neu fragen: Was ist uns wirklich wichtig? 

Katagiri Roshi: „Das Gewahrwerden, dass sich das Leben nicht erfüllt, allein in der Welt des dualistischen Bewusstseins und seiner Wünsche, ist ein Wendepunkt, es ist das Erwachen des „Weg- Geistes“.

Wanshi Zenji sagte eines Tages in die Stille des Dojo hinein: „Der klare Körper/Geist zerstäubt die Erscheinungsformen und umarmt den Mond um Mitternacht. Die Ursachen von Erscheinen und Vergehen - für einen Augenblick – abschneidend, ist dieser Körper/Geist direkt jenseits der Unterscheidungen. Dort liegt die Quelle der natürlichen Verfassung unseres Lebens, unseres Geistes, bevor jeglicher Gedanke oder Vorstellung geboren ist.“ 

Die Erscheinungsformen zerstäuben, kehren zurück zu ihrer Natur der Leerheit, und werden dann, Augenblick für Augenblick, neu zusammengesetzt durch die Energie des Universums, entsprechend einer inneren, sich selbst tragenden Struktur und Kraft. Wir sind Teil dieser Kraft, und unser Leben, unsere Handlungen bewirken etwas darin. Darauf können wir durch den ganzen Körper vertrauen.

Wir können uns an Meister Genshas Worte erinnern: „Das ganze Universum ist eine glänzende, durchscheinende Perle.“

Selbst die Höhle der Dämonen wird durch die Kraft dieser Perle verwandelt in einen friedvollen Raum des Seins. 

Ich danke Euch sehr für Euren Geist des WEGES und Eure Geduld.

Herzlichst

L. Tenryu

2. Woche im April 2020

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