Kanno Doko (Eine Henne brütet ihr Ei aus, das Küken pickt von innen)
Liebe Freundinnen und Freunde,
Euch allen von neuem einen guten Tag.
„Kanno Doko“ ist ein Ausdruck, der das Berühren der wahren Natur des Selbst oder des zeitlosen Augenblicks zum Ausdruck bringt, in einer Art Wechselbeziehung wie zwischen Henne, Ei und Küken.
Katagiri Roshi: „Wenn Ihr etwas verwirklichen wollt, das nicht zu fassen ist, müsst Ihr einfach beginnen, die Schale des Eies von innen anzupicken. Dann wird jemand oder etwas die Schale von außen aufpicken. Das ist der wirklich reale Weg der Übung, die es uns ermöglicht, unsere innere Buddha-Natur zu erfahren und aus ihr zu leben.
Alles was Ihr zu tun habt, ist Euch in Euch selbst niederzulassen. Pickt von innen, indem Ihr jedem Augenblick der Zeit direkt begegnet. Das ist Zazen. Während des Zazen konzentriert Euch ganz auf dieses Sitzen. Und indem Ihr so von innen pickt, wird etwas von außen die Schale aufpicken. Wenn ihr so übt, dann wird Euch etwas helfen – etwas, das über Euch selbst hinausgeht, wird Euch unterstützen. Und auf diese Weise könnt Ihr den Geschmack des wahren Selbst erhalten.“
Dass die Henne von außen pickt, bezieht sich nicht nur darauf, dass eine Person, z.B. der Lehrer, von außen pickt, sondern geht weit darüber hinaus. Alle Buddhas, die große Sangha, die Berge und Flüsse - alle gemeinsam - picken auf eine ruhige Art und Weise die Schale von außen auf.
Wenn wir die Zazen-Haltung einnehmen und uns der Atmung zuwenden, fühlen wir, dass darin Kräfte wirken. Wir beginnen unbewusst mit einer unergründlichen, formenden Kraft zusammen zu arbeiten, und zusammen mit ihr erschaffen wir eine Haltung, die den Kräften des Karma ihre höchste Form oder Würde gibt. Während wir mit den Händen das Zazen-Mudra bilden, können sich das Universum, Raum und Zeit in uns niederlassen und unsere Existenz selbst wird der Schnittpunkt dieser Wirklichkeit.
Dogen Zenji drückt es im Fukanzazengi so aus: „Vom Umherwandern auf staubigen Straßen können wir zurückkommen nach Hause.“
Wenn wir zurückkommen, kommen wir gleichzeitig an. Zurückkommen zum ursprünglichen Selbst ist das Ankommen in der letztendlichen Bestimmung.
Wenn Haltung, Atmung und Bewusstsein oder Handlung, Geist und Augenblick für einen Moment die gleiche Wellenlänge finden, ist ursprüngliches Selbst unmittelbar manifest.
Das „zu Hause bleiben müssen“ führt jedoch vielleicht dazu, dass unser Geist „auf staubigen Straßen herumwandert“ und wir brauchen etwas Geduld und Beharrlichkeit, wie die Henne beim Ausbrüten des Eies und das Küken beim Aufpicken der Schale, um uns im Grund des Geistes zu verankern.
Im beharrlichen Weiterführen der Übung des Zazen können die Zeit und die formenden Kräfte in uns heranreifen zu einer wahren Gestalt.
Der lebendige Körper und Geist sind Kräfte, innerhalb derer Wandel und neue Form stattfinden. Deshalb ist es gut, sich der konkreten Punkte der Haltung von Zeit zu Zeit zu erinnern: Z.B. ist unsere Wirbelsäule kein steifer Knochen, noch nur ein Kanal für die Nervenstränge, sondern sie ist auch das „Organ“, durch das die Kräfte von Himmel und Erde sich durchdringen können und uns diesen tiefen Eindruck der Verankerung und gleichzeitigen Offenheit geben.
Wenn wir unsere Wirbelsäule als ein lebendiges Wesen erfahren, dann verschwindet der Gedanke, dass das Ich der Besitzer ist.
Genauso sind Arme und Beine, Hände und Füße lebende Wesen. Und auch zwischen dem Bauch, dem Hara und dem Gehirn im Kopf, im Schädel gibt es eine seltsame und tiefgründige Verbindung, die aufgeweckt wird durch die rechte Spannung der Haltung, durch die Praxis des rechten Sitzens selbst.
Die Hüften sollten gut verankert sein und gleichzeitig gut aufgerichtet, gut gestreckt. Hüften und Becken sind ein grundlegender Bereich der Haltung. Es lohnt sich, darauf ein Augenmerk zu richten und sie zu trainieren.
Denn durch die rechte Spannung der Haltung geschieht es, dass die Aktivität des persönlichen Bewusstseins umgewandelt werden kann in eine grundsätzliche Gegenwärtigkeit.
Die ruhige, unergründliche Aktivität des tieferen Gehirns und damit des ganzen Menschen ist gleichzeitig der intensive und direkte Austausch oder die beständige Wechselwirkung mit dem ganzen Universum.
Zazen erlaubt es uns, für eine Weile als die Kraft des Lebens selbst zu existieren, als Leben an sich. Shikantâza meint, dass wir anerkennen, dass das Leben selbst in seinem permanenten Vergehen und Entstehen Buddha-Natur ist, ein beständiger Fluss. Und durch unsere Haltung und durch die Art und Weise, wie wir leben, können wir diese Wahrheit bezeugen.
Zazen meint aber auch „ein Bad nehmen im Licht des Mondes“. „Mondlicht“ ist ein Bild für die ursprüngliche Quelle des Lebens oder der Schöpfung. Dieses Mondlicht oder diese Quelle ist lebendig in jeder Zelle des Körpers, in jeder Empfindung, jeder Wahrnehmung. Es ist die immer gegenwärtige Grundlage des Bewusstseins.
Dogen Zenji: „Befreit von den Wolken durch den Herbstwind, ist der klare Mond der Reichtum eines Lebens. Dokan – der Ring des Weges - macht unseren Geist immer wieder neu und frisch. Im Erwachen sind Subjekt und Objekt verschwunden.“
Ich danke Euch sehr für Euer Zuhören, bitte bleibt gesund.
Herzlichst
L. Tenryu
4. Woche im April 2020