Der natürliche Geist, das Wesen der „lebendigen Leerheit“
Mujo jin jin mi myo ho, yakusen man go man so gu, gakon ken mon toku juji, gange Nyorai shin jitsugi.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich hoffe es geht Euch allen gut und der ungewöhnliche Alltag drückt Euch nicht zu sehr aufs Gemüt. Die Sonne greift uns in diesen Tagen etwas unter die Arme und die Natur schickt uns Frühlingsgrüße.
Die Natur selbst findet eigentlich auch statt als „unser Geist“. „Unser Geist“ und die Natur, Berge, Flüsse, Hecken und Steine sind verbunden durch - und enthalten in - der Natur oder dem Wesen der Leerheit. Im Buddha-Weg sagt man: Die Natur der Leerheit und die Natur des Geistes sind nicht zwei. Geist ist die „Lebendigkeit“, das, was stattfindet als diese Natur.
Geist, im großen Sinne, ist das Leben, die Dynamik oder die Fülle dessen, was man provisorisch „Leerheit“ nennt oder KU. Quelle, Raum und Zeit sind darin ein Wirken. Durch diese lebendige, unergründliche Natur der Leerheit kann Kanzeon Bodhisattva allen Wesen helfen, denn es ist seine Stille, die die Klänge in sich aufnimmt, und es ist die Kraft seiner Stille, die die Klänge verwandelt und friedvoll werden lässt.
Katagiri Roshi: "Ursprünglich sind wir vollständig die Unermesslichkeit. In der Unermesslichkeit des Universums gibt es keine Zweiteilung, keine Unterscheidung. Dort ist vollkommener Friede und vollkommene Harmonie. Philosophisch gesagt nennt man das Leerheit. Manchmal ist die Unermesslichkeit personalisiert und wird Buddha genannt. Wenn ihr diese Natur der Leerheit erfahrt, wird sie Buddha-Natur genannt. Mit einfachen Worten: Sie ist universelles Bewusstsein. Bevor ihr anfangt zu denken, ist Euer Leben hier bereits präsent. Wenn ihr also die Wahrheit des Lebens realisieren wollt, ist alles, was ihr tun müsst, so gut ihr könnt aufrecht zu stehen und anzufangen zu gehen.
Im Sutra der Berge und Flüsse sagt Dogen Zenji, dass, wenn ihr denkt, dass Gehen bedeute, einfach auf zwei Füßen zu gehen, ihr das Gehen nicht ganz verstanden habt. Wirkliches Gehen ist ganzherziges Kommen und Gehen, Entstehen und Erlöschen, einen Moment nach dem anderen. Auf diese Weise zu gehen bedeutet, durch das Reich der wahren Gegenwärtigkeit voran zu schreiten."
Wir bemühen uns oft zu verstehen, was unser Geist ist, doch je mehr wir uns bemühen zu verstehen, umso mehr entfernen wir uns von uns selbst und dem Leben. Wenn wir jedoch z.B. für einen Moment zu einer sachten Ausatmung im Jetzt zurückkommen, sind wir mitten im lebendigen Atem des Lebens und des Geistes. Atmung, Leben und Geist sind in ihrer Einheit „großer Geist“, universelles Bewusstsein.
Katagiri Roshi: "Leerheit ist nicht leerer Raum; etwas bewegt sich dort. Das Etwas, das sich dort bewegt, ist Geist-Aktivität. Geist selbst hat keine eigene fassbare Form; er ist unergründliches, dynamisches Funktionieren. Geist selbst ist das vollkommene, pulsierende Netzwerk des Buddha-Weges, das sich in alle Richtungen ausdehnt: zu Euch und zu allen fühlenden Wesen.
Dieser große Geist wird Buddha-Geist genannt, Bodhi-Geist oder Buddha-Natur. Baum, Hecke, Fels und Fluss, sie alle sind Buddha-Geist. Er ist die ganze Welt, das Universum.
Jeder kann diesen Geist nutzen, (sich in ihn einfügen), weil er sich durchgehend jedem öffnet. Er übersteigt das menschliche Bewusstsein, aber er existiert im Alltagsleben.
Ihr studiert euer eigenes Leben und gleichzeitig öffnet Ihr Euer Leben zum universellen Leben. Beide Aspekte kommen zusammen.
Letztendlich wird Euer individueller Geist zu dem einen Geist aller fühlenden Wesen.
Wenn ihr eine Mahlzeit zu euch nehmt, auf der Straße geht, egal was ihr tut, er ist da. Aber er ist nicht etwas, das ihr erschafft. Er ist Freiheit."
In der Welt der Leerheit oder der Natur der Leerheit gibt es nichts Besonderes zu tun. Dort ist das Universum ruhig und friedvoll. Doch in der Welt oder dem Aspekt der sich wandelnden Erscheinungsform müssen wir etwas tun, denn dort gibt es viele widerstreitende Kräfte. Wir müssen unseren Geist und unser Handeln ausrichten, denn sonst verlieren wir uns.
Um herauszufinden, was die Ganzheit der Haltung oder des Tuns ist, was die Ausrichtung sein soll, brauchen wir einen Augenblick der Stille, des „Nicht-Tuns“, damit unser innerer Kompass unwillkürlich selbst seine Ausrichtung findet. Denn in der Stille entwickelt der Morgenstern der Buddha-Natur seine ihm eigene Anziehungskraft, Kompassnadel und Stern ziehen sich wechselseitig an.
Tun und „Nicht-Tun“ sind die beiden Seiten einer lebendigen Ganzheit. Gedanken und Empfindungen sind nicht nur flüchtige Phänomene, sondern oft wirkende Kräfte, die unser Bewusstsein und unsere Handlungen bewegen. Wenn man sagt „den Geist nach innen wenden“, meint das, dass wir Gedanken und Empfindungen an die Natur der Leerheit übergeben. Durch die Natur der Leerheit kann ihre Kraft verwandelt werden in das Ki und die Stabilität des Geistes.
In sich selbst ruhende Sammlung des Geistes ist ein Zusammenspiel zwischen den Kräften der Erscheinungsform und der Natur der Leerheit, die sich wechselseitig bedingen.
Manchmal denken wir, dass wir Gedanken und Empfindungen abwehren können oder sollten, aber eigentlich ist das nicht so. Die Haltung ermöglicht es uns, sie oder ihre Kraft, der Natur der Leerheit zu übergeben, die ihr Potential verwandeln und neu ausrichten kann. Unser Gewahrsein, unser Sein selbst ist daran beteiligt.
Mit diesem Hintergrund können wir den Geist des Weges berühren und er kann sich in unserem Dasein als Praxis und Präsenz ausdrücken.
Katagiri Roshi: "Der Buddha-Weg ist ein universeller Pfad. Alle fühlenden Wesen gehen entlang dieses Pfades. Er existiert für immer, also ist er immer vorhanden und unterstützt immer Euer Leben. Dieser universelle Pfad wird provisorisch Geist genannt. Wenn ihr den Pfad erfahrt und an der wahren Realität direkt teilhabt, nennt man es den Geist des Weges.
Der Geist als universeller Pfad ist friedvoll und gleichzeitig dynamisch.
Wie kann etwas friedlich und gleichzeitig dynamisch sein? Ein Ball z.B. kann überall hin rollen, aber sein Zentrum ist immer ruhig. Also, wenn ein Ball anfängt zu rollen, gibt es Stille in der Bewegung seiner äußeren Hülle und Bewegung der Stille in seinem Zentrum.
Spirituell gesprochen wird diese stille und dynamische Aktivität Geist, Weg oder Pfad genannt. Sie ist das ruhige Zentrum Eures Lebens und gleichzeitig lenkt sie Euer Leben. Euer Leben existiert dort bereits, also könnt ihr diesen Frieden und diese Harmonie direkt erfahren. Wenn ihr sie erfahrt, nennt man es Samadhi.
Wenn ihr den Weg-Geist erweckt, fühlt ihr euch befreit. Ihr fühlt Euch dankbar. Ihr fühlt Euch zufrieden. Aber Euer Ego- Bewusstsein findet es nicht immer befriedigend, weil es nicht gut funktionieren kann, ohne etwas zu wollen.
Menschen vergessen immer wieder die Dharma-Welt des Eins-seins und steuern auf die dualistische Welt von interessanten Ideen zu.
Zu praktizieren bedeutet, diese Ideen gehen zu lassen und zum Buddha-Weg zurückzukehren."
Die Zazen-Haltung und die Haltungen in der Praxis des Alltäglichen sind nicht eine Form, die einmal gegossen wird und dann erstarrt, konserviert wird, sondern das dauerhafte, aufmerksame Bilden und Erforschen der Haltung ist der Weg, unser kleines Ich zu vergessen und zur Einheit mit Handlung, Raum und Zeit zu verschmelzen.
Natürlich hängt unsere Haltung von vielen Bedingungen und Einflüssen ab, die sich täglich wandeln, aber es bedeutet auch, dass diese Haltung Augenblick für Augenblick ein atmendes Zentrum dieses Universums ist, verwoben mit dem Ganzen. Es bedeutet, dass diese Haltung Einflüsse in sich aufnimmt und simultan einen Einfluss ausstrahlt.
Es ist diese Verwobenheit von Form und Ki, die die Essenz der Haltung ausmacht. Eine tiefe Vertrautheit mit Zazen zu entwickeln, heißt nicht nur sich an die Haltung zu gewöhnen, sondern die Art und Weise des Erforschens und des Bildens der Haltung zu verinnerlichen.
Jedes Eintauchen in die Tiefe der Zeit hinterlässt in uns einen Eindruck des Eingebunden-Seins und der Stille. Es ist diese Erfahrung, die dem Leben die Angst nimmt, die Furcht zu versagen oder alles zu verlieren.
Unser Leben ist gleichzeitig Welle und Wasser, Strom, Ozean, Tropfen. Wenn wir uns innerlich dieser Realität des Stromes oder des Ozeans vergewissern können, fällt eine große Last ab, und unser Leben wird etwas davon in die Umgebung ausstrahlen.
Die Möglichkeit des Übens können wir jederzeit nutzen, ohne Hektik noch Erreichen-Müssen. Oft wird uns dabei in diesen Tagen jedoch auch schmerzlich bewusst, wie sehr uns die Praxis im Dojo eigentlich stützt. Doch auch dieser Schmerz ist Teil der Verbundenheit und kann durch die stille Buddha-Natur verwandelt werden in einen tiefen Geist des Weges.
Katagiri Roshi: "„Leerheit“ birgt in sich eine unermessliche Aktivität und Dynamik. Wirkliches Leben ist mehr als Leben im biologischen Sinne. Es ist der schöpferische Impuls, der mitten in der Leerheit eine Art Vibration erzeugt. Ohne diesen Impuls kann nichts erschaffen werden."
Wenn wir unser Leben mit diesem Hintergrund wertschätzen können, ist das ein großes Geschenk, das uns in den Momenten der Verunsicherung weiterhilft.
Wenn wir also lernen, wenn wir die Hingabe finden, Körper und Geist auf die Natur der alles tragenden Leerheit zu stützen, können wir mit einer wirklich inneren Demut den Augenblick annehmen und uns darin aufrichten.
In der Stille am Grunde der Zeit wird der wahre Klang geboren. Er nimmt alle Klänge in sich auf und wird die stille, ruhige Stimme des Flusses im Tal.
Ich danke Euch sehr für Euer Zuhören, Lesen und Aufnehmen.
Von Herz zu Herz,
L. Tenryu
3. Woche im April 2020